Under_construction: visual dialogue

Im Fokus: Identitäten in der Armenischen Transnation

Barbara Höffer

Die Ausstellung " UNDER_CONSTRUCTION" versteht sich als ein experimentelles Spiel. Sie eröffnet einen offenen Dialog. Debattiert wird die Frage der Identität, die Möglichkeit einer armenischen Identität jenseits fester Grenzen und tradierter Begriffe wie Nationalität, Tradition und Sprache. Gezeigt werden Arbeiten von sieben Künstlern und Künstlerinnen armenischer Herkunft, deren Biographien sich ähnlich einem kulturellen Patchwork lesen. Sie alle sind multilingual und in unterschiedlichen kulturellen Kontexten aufgewachsen. Das Nomadische, das Hybride ihrer Existenz, das es ihnen als internationalen Künstlern ermöglicht, sich mühelos in verschiedenen Sprachen und Welten zu bewegen, prägt eine Kultur, die Identität paradoxal, als flüchtigen, stets sich wandelnden Prozess begreift.Dabei ist es die Erinnerung an die armenischen Wurzeln, - die Suche nach dem verlorenen Garten-, die für Achot Achot, Emily Artenian, Andrew Demirdjian, Silvina Der-Meguerditchian, Dahlia Elsayed, Archi Galentz und Sophia Gasparian zum Motor des visuellen Dialogs und ihrer kreativen Arbeit avanciert. Armenien wird dabei selbst zur Idee der Transnation, die sich im permanenten Werden und Entstehen begreift, under_construction. Das Hinterfragen , das in Bewegung setzen nationaler Strukturen durch transnationale Gemeinschaften und deren kreatives Potential erhält im Kontext der Biennale Venedig, der großen national orientierten Leistungsschau der Kunst– eine scharfe Kontur und Anziehungskraft. Mit der Wahl des Ausstellungsortes reihen sich die Künstler in die lange Tradition Armenische Kunstproduktion in der Diaspora ein.
Die Idee der Ausstellung Under_Construction geht auf das gleichnamige Internet-Projekt zurück, das Silvina Der- Meguerditchian im Jahr 2005 ins Leben gerufen hat und den Künstlern und Künstlerinnen einen virtuellen Raum für ihren regen, visuellen Austausch bietet. Dieses Forum ermöglicht es innerhalb eines offenen Prozesses zu experimentieren und lässt hybride Identitäten erlebbar werden. Diese spezifische Arbeitsweise und die visuellen Protokolle der künstlerischen Dialoge werden in der Ausstellung in Form eines Videos für die Besucher zugänglich gemacht. Entscheidender Bezugspunkt der ausgewählten künstlerischen Arbeiten ist das Fehlen fester Gewissheiten, die Abwesenheit klar definierter Identitäten. Die Sehnsucht nach etwas für immer Verlorenem und damit die Suche nach einer Form der Erinnerung bleiben hinsichtlich der Frage nach einer armenischen Identität treibende Motivation.

Dies bezieht sich sowohl auf die künstlerischen Inhalte wie auch auf die Frage nach der Form oder dem spezifischen Medium des künstlerischen Ausdrucks. Besondere Bedeutung nimmt in diesem Zusammenhang die Auseinandersetzung mit dem Genozid an den Armeniern ein. Die Vernichtung und Vertreibung der Armenier stellt ein Vakuum dar, die Abwesenheit per se, die sowohl innerhalb des heutigen Staates Armenien als auch in der Diaspora spürbar und prägend ist. Die präsentierten Arbeiten spielen mit unterschiedlichen künstlerischen Medien und Formen; sie experimentieren mit Erinnerungs- und Identitätsfragmenten des individuellen und kollektiven Unbewussten. Sie kreieren neue Bilder und dekonstruieren diese wieder. Identität wird so zu einem performativen Akt, der sich im Spannungsfeld zwischen An- und Abwesenheit, zwischen Bedeutungsproduktion und -auflösung bewegt.
Die vertiefenden Texte von Ali Akay, Estela Schindel und Marc Wrasse entwickeln in je eigener Weise ganz unterschiedliche Perspektiven auf die Frage einer armenischen Identität und den Potentialen oder auch Schwierigkeiten einer armenischen Transnation. Während der Philosoph Marc Wrasse Armenien im NOW_HERE, im Heute und Hier verortet und die Möglichkeit einer armenischen Identität als Spiel zwischen Vergangenheit und Gegenwart auslotet, erörtert der Philosoph und Kurator Ali Akay die Bedeutung nationaler Bürgerrechte für die Identität des Einzelnen. Er verweist in diesem Zusammenhang auf die problematische Situation von Immigranten und multikulturellen Gemeinschaften und die Schwierigkeit der Bildung einer kollektiven Identität. Die Soziologin Estela Schindel stellt in ihrem Text „Weaving the endless Armenian transnation“ dagegen die dynamischen und kreativen Aspekte der armenischen Diaspora als einer selbstschaffenden Gemeinschaft in den Vordergrund . Für sie beschreibt der permanente Konstruktionsprozess eine Gewissheit jenseits von Tod und Verlust.

Silvina Der-Meguerditchian

Under construction ist ein visueller Dialog im Internet, der sich am Beispiel armenischer Künstler mit dem Thema nationaler und transnationaler Identität als performativem Akt im Alltag beschäftigt.Der Prozess der Identitätsbildung ist sehr eng mit der Umgebung verbunden, in der das Ich sein Spiegelbild findet.Welche Möglichkeit haben die Armenier der dritten Generation, ihr Spiegelbild zu finden?Eine gemeinsame, alle Armenier vereinende politische Organisation gibt es nicht. Von unserer Muttersprache existieren zwei unterschiedliche Versionen: Ostarmenisch und Westarmenisch. Auswanderer der zweiten Generation sind nicht in der Lage, auf Armenisch flüssig miteinander zu kommunizieren. Durch ein unterschiedliches Erbe ist unsere über die ganze Welt verstreute Mentalität in drei Gruppen aufgeteilt: eine “osmanische“, eine persische und eine russische, je nach Herkunftsort und Zeitpunkt der Migration. Das Leben in der Diaspora kann jüngeren Generationen nur wenige inspirierende Anhaltspunkte bieten, mit denen sie sich identifizieren können. Der Umgang mit der nationalen Identität beschränkt sich in vielen armenischen Enklaven lediglich darauf, Traditionen zu bewahren. Ein Leben in Armenien stellt ebenfalls keine bessere Alternative dar. Das Land steckt in einer solch tiefen Krise, dass es kein Leitbilder bietet, denen man folgen könnte. Dennoch gibt es eine sehr harte nationale Erfahrung, die Nährboden für ein Gemeinschaftsgefühl ist: das Trauma des Völkermords. Dieses Trauma ist ein Vermächtnis der Angst, ein Auftrag an spätere Generationen, der eine zentrale Stellung einnimmt: Lasst nicht zu, dass wir vergessen werden! Gibt es weitere Thematiken oder Auffassungen vom Leben, die uns miteinander verbinden? Ja, aber vor dem Hintergrund des alles überschattenden Völkermords sind die Umrisse dieser Themen verschwommen. Das Ziel von under_construction ist es: 1. einen Prozess der Erkenntnis in Gang zu setzen, 2. die Ausgangsbasis für eine Bewusstseinsbildung aufzuzeigen, 3. mit Hilfe eines visuellen Dialogs zwischen Künstlern ein zukunftsorientiertes Bewusstsein zu schaffen. Schaffung eins Sprachbewusstseins. Wie bereits erwähnt, ist die armenische Sprache nicht mehr die Grammatik unserer Identität.

Durch einen visuellen Dialog könnten Künstler einen neuen Code erschaffen. Indem man den Anderen betrachtet, erkennt man ihn und sich selbst. Wenn man diesen Akt des Bewusstseins in Bilder und Worte fasst, trägt man dazu bei, eine Sprache zu schaffen, die anfangs individuell und subjektiv sein kann, jedoch in einem kommunikativen Kontext als Semantem, als „Kollektivsatz“ funktionieren kann: verworren und doch verständlich. Ich habe Künstler eingeladen, die über ein vielfältiges Repertoire an künstlerischen Strategien, Themengebieten und visueller Sprache verfügen. Wie kann man eine durchlässige /performative (??) Identität schaffen, die es erlaubt, sich zu öffnen, ohne sich dabei zu verlieren? Ist es möglich, durch virtuelle Kommunikation ein Gefühl der nationalen Gemeinschaft wiederzuerschaffen und neu zu erleben?Die Webseite wwww.underconstructionhome.net präsentiert Künstler, die an einem Dialog über das Thema Identität teilnehmen. Während der Dauer eines Jahres hat jeder Teilnehmer den anderen visuelle Texte oder visuelles Material zu einem frei wählbaren Thema in monatlich wechselnder Folge zugeschickt und den jeweils anderen Künstlern mit visuellen Texten oder visuellem Material geantwortet. Parallel dazu haben wir ein Blog eröffnet, in dem jeder, einschließlich der Künstler, die Gelegenheit hatte, Informationen, Gedanken, Inspirierendes und Betrachtungen zu veröffentlichen. Im Verlauf des Projekts hat sich gezeigt, dass die Künstler nach einer Gewöhnungsphase die Kommunikationsregeln verinnerlicht hatten und ihre visuelle Unterhaltung flüssig wurde. Während der ersten 4 Monate haben sich dem Projekt zwei neue Künstler angeschlossen, während zwei andere Teilnehmer das Projekt verließen. Die aktuelle Ausstellung ist von grundlegendem Charakter und verstärkt die virtuelle Erfahrung durch eine reelle Erfahrung. Der Weg ist noch weit, aber die ersten Schritte sind getan. „under_construction" wird zur Quelle einer fließenden Struktur, zu einer Strategie, mit Hilfe derer es möglich ist, die Vielfältigkeit des heutigen Daseins zu begegnen.

underconstructionhome.net

Founded in 2004 by Silvina Der-Meguerditchian, Underconstruction was a communication platform for artists interested in issues of identity, transglobalization and the construction of both personal and groupconsciousness. Underconstruction is also interested in issues of concern to worldwide diasporas, including but not limited to the Armenian diaspora. 

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